Prolog: Neugierig

Samstag, 10. September 2022

Wer schon einmal in London U-Bahn gefahren ist, kennt den Aufruf. „Mind the gap“, tönt der Hinweis aus den Lautsprechern. Er erinnert daran, dass häufig (insbesondere bei Stationen, in denen die Bahn in einer Kurve hält) ein nicht unerheblich breiter Spalt zwischen Bahnsteigkante und Waggon zu überwinden ist. Die Ansage macht täglich und immer wiederkehrend auf den Zwischenraum zwischen dem einen und dem anderen aufmerksam, zwischen hier und dort.

Mind the gap! – Das könnte genauso gut die Überschrift für eine Pilgertour sein. Im Rückblick berichten viele Pilgerinnen und Pilger von ihrem Weg und ihren persönlichen Erfahrungen. Und häufig kommen sie da trotz unterschiedlicher Motivationen und Beweggründe, trotz der Andersartigkeit von Startpunkt, Pilgerweg und Ziel zu der gleichen Erkenntnis: „Der Weg macht etwas mit dir. Er verändert dich.“

Vielfach steht die Erfahrung im Mittelpunkt, dass nicht das Ziel das Entscheidende war, sondern der Weg, das Unterwegssein, das Pilgern an sich. Bedeutsam geworden ist für sie also das Dazwischen, die „gap“ sozusagen. Doch damit ist nicht das allseits bekannte „Der Weg ist das Ziel“ gemeint. Zumindest wird man dem Pilgern nicht gerecht, reduziert man es auf diese Formel.

Pilgern bedeutet, einem konkreten Zielort entgegenzugehen und beinhaltet auch immer wieder das Ankommen und Sich-neu-auf-den-Weg-machen (bei längeren Strecken). Es ist mehr als ein frommer Spaziergang, bei dem es nur um einen schönen Weg und tolle Aussicht geht. Pilgern beinhaltet die konkrete Auseinandersetzung mit dem Start- und Endpunkt. Und es ist klar, dass man sich dabei buchstäblich nicht im Kreis drehen sollte.

Die „gap“ zwischen Losgehen und Ankommen bestimmt unbestreitbar den Charakter des Pilgerns am meisten. Der Weg ist nur im Gehen und nicht im Stehen zu bewältigen. Der Fuß erhebt sich in die Luft, immer und immer wieder. Erst der eine, dann der andere. Der rechte, der linke. Dann wieder der eine und anschließend derandere. Nach den ersten Schritten läuft all das wie automatisiert ab. Macht man sich diesen Bewegungsablauf bewusst, merkt man: Gehen besteht daraus, dass stets ein Fuß am Boden ist, während der andere in der Luft gehalten wird. Nur für einen kurzen Moment sind beide Füße am Boden – und das noch nicht einmal ganz und gar. Denn während der eine Fuß auftritt und mit dem Boden Kontakt aufnimmt, rollt sich der andere schon wieder ab und erhebt sich in die Luft, um den nächsten Schritt zu tun.

In diesem Rhythmus legt man den Weg zurück, Stück für Stück. Ein andauernder Takt von Ruhe und Stand im Wechsel, begleitet von dem Drang und der Bewegung nach vorne.

Mind the gap! Achte auf die Spanne zwischen Anfang und Ende, zwischen Losgehen und Ankommen, zwischen Frage und Antwort! Wer sich dem Weg aussetzt, wird seine Pilgererfahrung machen. Begegnet man den Lücken des Weges, den offenen Punkten und losen Enden des Denkens, dann wird der Weg etwas verändern. Nur so kann aus einem scheinbar beliebigen Weg „mein Weg“ werden.

Mind the gap! – Damit deine Neugier und Sehnsucht laufen lernen und Pilgern (d)ein heiliges Abenteuer werden kann. 

 

Was du heute tun kannst

Nimm dir vor, neugierig zu sein: frage nach, beobachte, lies etwas nach.

Entwickle eine freundliche Neugier auf etwas alltäglich Besonderes, das du in deiner Umwelt wahrnimmst:

  • Du kannst zum Beispiel jemanden etwas fragen, was du schon immer wissen wolltest:
    etwa, wie der winzige Vorgarten eines Hauses so prächtig gedeiht, welches Musikinstrument in der großen Tasche verborgen ist, was an einem Hobby oder Ehrenamt besonders fasziniert …
  • Du beobachtest in Ruhe, wie etwas funktioniert:
    die Zubereitung eines Cappuccinos, die Müllabfuhr, das Pflügen eines Feldes, …
  • Du bemerkst eine Sache und erforschst sie:
    Schau im Atlas schauen, wo ein im Radio erwähntes Land liegt, finde den Namen einer Baum-Art heraus, lies nach, wie eine verstorbene Schauspielerin gelebt hat …

Du kannst dir Notizen im Pilgerbuch machen oder einen Zettel mit deiner „Entdeckung des Tages“ einkleben.

Gebet

Gott, ich bin neugierig auf den Weg, der vor mir liegt: 
Ich weiß noch nicht, was auf meinem Weg alles passieren wird;
wem ich begegne oder was ich entdecken werde.
Aber ich freue mich darauf, ihn zu gehen.
Trotz oder gerade wegen dieser Ungewissheiten.
Ich bitte dich auf meinem Weg um deinen Segen - 
für das Losgehen und für das Ankommen.
Und insbesondere für jeden Schritt dazwischen.
Pass bitte gut auf mich auf!
Danke.

Amen.

Impulse zum Anhören

Morgen starten wir unser kleines Pilgerabenteuer im Bistum Hildesheim. Zusammen machen wir uns auf den Weg. Hier ist unser Angebot für alle, die nicht auf eine große Pilgerreise gehen können. Wir pilgern zwischen Büro und KiTa, zwischen Einkaufen und Schule, zwischen Sportverein und Cafébesuch. Wir nehmen uns Zeit, wir fragen, wir denken nach. Gemeinsam. Kommst du mit?